Winfried Mall

Sensomotorische Lebensweisen -

ein Verständniskonzept für Menschen mit geistiger Behinderung

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Die eigene Wirksamkeit erleben

Im Laufe des ersten Lebensjahres entdeckt das nicht behinderte Kind sein Vermögen, auf seine Umwelt Einfluss auszuüben. So schreit es zum Beispiel nicht mehr nur als Reaktion auf frustrierende Erfahrungen, wie vielleicht nach dem Verlust seines Lieblingsspielzeugs, sondern setzt dies gezielt zur "Provokation" einer Reaktion von Mutter oder Vater ein. Es spielt mit diesen Reiz-Reaktions-Ketten, voller Erwartung, wie lange dies „funktioniert“, und wie groß sein Einfluss tatsächlich ist, wobei der Reiz mehr im Erleben der eigenen Wirksamkeit liegt als in dem konkreten Ziel der Handlungskette.

Auf das Spazieren Gehen freut es sich bereits beim Anblick der Jacke, gegen das Baden protestiert es bereits, wenn es das Wasser rauschen hört. Beim Hoppe-Reiter-Spiel wartet es voller Spannung auf den Höhepunkt im „Plumps“, oder am Ende des Fingerspiels auf das Kitzeln.

Dabei bilden sich Erwartungshaltungen, wie auch Ansätze für eine innere Vorstellung von Raum und Zeit. Beim Verstecken und wieder Finden formt sich die Erkenntnis der Objektkonstanz, nämlich dass Dinge und Menschen auch dann noch vorhanden sind, wenn man sie gerade nicht spürt, sieht oder hört.

Will ich als Fremder mit dem Kind in Kontakt kommen, werde ich mich besser zunächst nach seinen Gewohnheiten richten, "sein Spiel mitspielen" und es nicht gleich mit meinen eigenen, neuen Ideen und Anregungen konfrontieren, sonst werde ich für das Kind kaum ein interessanter Spielpartner werden.

Auch die meisten erwachsenen, nicht behinderten Menschen strukturieren ihren Alltag gemäß ihren Gewohnheiten. Routinen und Rituale geben Sicherheit, manchmal bis hin zur Zwanghaftigkeit. Eine unvertraute Situation, sei es die neue Arbeitsstelle, die neue Wohnung nach einem Umzug, das Hotel am Urlaubsort, fordert dazu heraus zu ergründen, wie es hier läuft, wie die räumlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhänge sind.

Wenn es gelingt, etwas zu bewirken, eine neue Situation zu kontrollieren, sich als einflussreich zu erleben, schafft dies ein Gefühlt der Befriedigung. Selbstbestimmung hat ihre Wurzeln in diesem Lebensthema.

Selbst wenn ein Mensch auf Grund seiner Beeinträchtigungen nur sehr wenige Handlungsmöglichkeiten hat, kann er entdecken, dass er seine Umwelt beeinflussen kann, und sei es mit schlichter Verweigerung, gezieltem "Stören", oder im "stereotypen" Einfordern bestimmter Dinge (zum Beispiel dass immer das Radio zu spielen hat). Sobald jemand ein Empfinden für die eigene Wirksamkeit gewonnen hat, will er sich auch aktiv in seine Umwelt einbringen, und erhält er keine konstruktive Gelegenheit dazu, wird er dies wohl eher mit „störendem Verhalten“ tun, bevor er sich in Resignation drängen lässt – um so mehr, wenn er sich vielleicht ohnehin ständig überfahren und bevormundet erlebt, weil seine Umwelt schon immer bereits zu wissen meint, was er will, was er braucht, was er tun soll.

Er will auch spüren, wie weit sein Einfluss reicht, und ob die aufgezeigten Grenzen wirklich verlässlich sind. Dabei kann je nach Reaktion der Umwelt, die überstark eingrenzt oder aber unrealistisch nachgiebig ist – manchmal sogar gleichzeitig, bezogen auf verschiedene Verhaltensbereiche – der subjektive Eindruck von Ohnmacht, von Omnipotenz oder von Verwirrung entstehen.

Die Kontrolle der Umwelt über Zwänge und Rituale oder das Bestehen auf Gleichförmigkeit, auch durch "provozierendes Verhalten" können dann den Sinn haben, selbst für die Klarheit der Strukturen zu sorgen, vielleicht aber auch, um damit übergroße Angst vor Neuem abzuwehren und unvorhersehbare Situationen zu vermeiden. Letzteres kann ein Hinweis auf Schwierigkeiten bezüglich des Umgangs mit Zusammenhängen sein, ist vielleicht aber auch als Folge tief sitzender und weit zurück liegender Verunsicherungen zu sehen, bezüglich der Themen "Urvertrauen", "Vitalfunktionen" oder auch "Umwelt entdecken".

Verhindert eine zu bevormundende und einschränkende Umwelt die Entdeckung der eigenen Wirksamkeit, mag dieser Mensch vielleicht zwar weiterhin „brav“, lenkbar und überangepasst bleiben. Ihm fehlt jedoch eine wichtige Grunderfahrung zur Ausdifferenzierung seiner Persönlichkeit im Herauswachsen aus der symbiotischen Beziehungswelt, und gleichzeitig behindert dies zusätzlich seine intellektuelle Entfaltung, weil ihm wichtige Grundkonzepte für die Erkenntnis seiner Umwelt vorenthalten bleiben.

Wenn sich der Sinn für Zusammenhänge nicht oder nur unvollkommen entwickelt, können zeitliche Strukturen nur ungenügend wahrgenommen werden. Dann ist "später" vielleicht gleich bedeutend mit "nie", warten zu müssen ist kaum auszuhalten. Manche vergewissern sich bezüglich der Abläufe durch ständiges Nachfragen, und es kann ihnen eine große Hilfe sein, wenn man Zeitstrukturen oder Handlungsketten visualisiert (zum Beispiel durch Kalender, Pläne o. ä.).

Selbst wenn jemand solche Zusammenhänge schon oft miterlebt hat, kann er Mühe haben, sie selbstständig ohne Begleitung "auf die Reihe" zu bekommen oder gar auf neue Situationen zu übertragen, Lernen aus Erfahrung ist damit kaum möglich. Wird dies von der Umwelt nicht erkannt, kommt es rasch zu Überforderung. 


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